Tagebucheintrag einer Ibbenbürenerin zum Ende des Zweiten Weltkrieges

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Nun ist es soweit. Was wir seit Tagen befürchteten, der Feind rückt näher. Angestrengt verfolgen wir die Berichte der Wehrmacht: Dülmen, Coesfeld werden bombardiert, wann sind wir an der Reihe?

Bei Alarm rennen wir zum Stollen im "Von der Heydt", kaum bekommen wir noch das Mittagessen fertig.

Alles rüstet sich zu Ostern. Am Karfreitag gegen 19 Uhr setzt die Sirene wieder ein, sie nimmt kein Ende: Hochalarm: 5-Minuten-Alarm. Wir greifen unsere längst gepackte Habe und rennen in Sicherheit, doch nach einer Stunde kommt die Entwarnung.

Den Samstag vor Ostern verbringen wir in Angst und banger Erwartung. In der Osternacht hallte das Sprengen der Brücken und Flugplätze in unseren Ohren. Die letzte Hoffnung war dahin.

In der Frühe des ersten Ostertages riß Hochalarm die Menschen aus dem so notwendigen Schlaf. Wohl jeder wußte, jetzt rollt der Krieg auf uns zu. Ich wunderte mich über mich selbst, stand gefaßt auf, weckte die Kinder, nahm die immer bereitstehende Habe und wir gingen zu dem Stollen.

Auf der Straße von Leugermann hoch begegnete uns unser zurückflüchtendes Militär, Soldaten zu Fuß, zu Pferde, Lastwagen über Lastwagen. In diesem Stollen saßen die Menschen wie Heringe zusammengepfercht, die Luft wurde schlecht, an Schlaf kaum zu denken.

Dann kam die Parole: "Die Stadt muß geräumt werden!" Viele verließen den Stollen und fuhren in die Zeche ein, auch wir. 80 Meter tief kletterten wir über eine Hühnerstiege hinab, wir waren trotz allem so dankbar, sicher zu sein.

Wir verbrachten eine schlechte Nacht auf harten Brettern, doch bald gab es Strohlager, so konnte man wenigstens einmal schlafen, bald gab es Kaffee und manchmal warmes Essen, die Seilfahrt lief und brachte uns dann und wann ans Tageslicht.

Langsam kroch die schwere Zeit dahin und die letzte Nacht mit dem mörderischen Feuer setzte ein, doch für uns in der Tiefe nicht vernehmbar, und am nächsten Tag nahm der Feind von unserer Stadt Besitz. Es wurde unheimlich. Das Licht verlöschte. Die Fördermaschine stand still. Nur trübe Grubenlampen gaben etwas Licht. Man las in den Gesichtern, was die Menschen empfanden. Noch eine Nacht verbrachten wir unten.

Voller Angst vor den kommenden Dingen krochen wir am nächsten Tag die Hühnerstiege wieder hoch, mit allem Gepäck, o, man kann viel, wenn man muß. Wir freuten uns auf das Tageslicht. Lachende Sonne empfing uns und strahlte Wärme aus über ein Bild des Jammers. Weinende Menschen mit Kind und Kegel am Ende der Nervenkraft. Der Zechenplatz war voll von englischen Soldaten und Lastwagen. Unser Blick fiel auf das weiße Brot, das die Soldaten aßen. Bald kamen wir auf die Straße, Zerstörung über Zerstörung. Drähte hingen wirr herunter. Glas, Ziegel, zerschossene Wagen lagen umher. Wir sahen tote Soldaten liegen und das Entsetzen packte uns. Wir eilten, so schnell es ging, nach Hause mit dem Gedanken: "Ob es noch steht". Ja, Gottlob, es stand, wenn es auch schrecklich aussah. Uns kamen die Tränen, es war Dankbarkeit, Freude oder Schmerz, man mußte weinen. Bald kamen englische Soldaten und durchsuchten die Wohnung, große Angst bemächtigte sich unser, doch sie belästigten uns nicht. Nun begann das große Aufräumen. Der Kohlenstaub von acht Tagen wurde abgewaschen. Nach zwei Tagen gab es das erste Brot. Heute denke ich manchmal daran, wenn ich ein Brot anschneide, mit welcher Dankbarkeit wir damals das erste Brot nach den schweren Tagen in Empfang nahmen.

Uns krampfte sich auch manchmal das Herz zusammen, eines war das größte Geschenk: Wir konnten schlafen, schlafen. Die Bomber zogen über uns hinweg, um weiteres Unheil über die Städte zu bringen, und wir legten uns schlafen. Es war die Erlösung nach all dem Erlebten. Doch der Krieg ging weiter in das Land bis zum bitteren Ende...